Pastor Torsten Morche erläutert: „Gemeinwesenorientierung“ – das heißt doch wohl: schauen, was die gemeinen Leute wollen. Ich war der Meinung, das haben wir als Kirchengemeinde immer schon gemacht. Aber es ist schon wahr: es war oft wie ein Schauen in den Nebel und ein Hoffen, mit dem Angebot das Richtige getroffen zu haben. Oft hats geklappt, zunehmend oft nicht. Ich habe lernen müssen: Klarheit über das, was die Leute wollen und brauchen und auch von Kirche erwarten, bekomme ich nur, wenn ich in den Nebel hinein gehe und dort, auf Tuchfühlung, die Leute dazu einlade, mit uns auszuloten, was gemeinsam geht. Ich lade nicht zu den Angeboten der Kirchengemeinde ein, sondern lade die Leute dazu ein, bei uns und mit uns zu lernen und zu tun, was hilfreich, nützlich und heilsam ist. Der Lernprozess ist schwierig, weil ich es nicht gewohnt bin, den Schlüssel für die Kirche oder das Gemeindehaus herzugeben, ohne zu wissen, was da ohne mich passiert; ohne darauf zu zielen, dass auch für die Kirchengemeinde dabei was rumkommt: Taufen, Trauungen, Wiedereintritte, mindestens aber ein Beitrag zu den Betriebskosten.
Ich bin es nicht gewohnt, nicht schon am Anfang eine Idee zu haben, wohin eine Aktion, eine Initiative sich entwickelt. Aber ich mache gute Erfahrungen: Der Bibelkreis war auf ewig angelegt – und starb. Das gemeinsame Kochen mit saisonalem Gemüse aus der Region war nicht auf ewig angelegt, stab auch, aber das war gar nicht dramatisch. Das Ahoi-Nachbarschaftssingen neben der Kirche hatte sich vorher so auch niemand vorstellen können, und wenn etwas anderes wichtig wird, dann bitte! Hier ist Platz, Strom, Licht, Heizung und etwas Geld, aber noch viel mehr Potential in den Menschen, die das wollen und mit ihrem Wollen den Platz beleben. Das ist ein attraktiver Gedanke, der mich in die Praxis lockt. Aber offenbar ist das Lernen noch nicht zu Ende.
Die Theoretiker*innen der Gemeinwesenorientierung von Kirche denken sich die Gemeinde, wie mir scheint, als zweckfrei handelnde, sich jesuanisch verschenkende, der Nächstenliebe hingegebene. Ich muss zugeben, dass ich auch jetzt noch auf Gewinn für meine geliebte evangelische Kirche hoffe. Schließlich bin ich Pastor und die Sorge um die Institution liegt mir im Blut. Sie muss nicht so bleiben wie sie ist, aber sie sollte doch bleiben und nicht an Unterernährung versterben. Ebenso kann ich nicht verleugnen, dass ich den vorderen Teil des Doppelgebotes: „Liebe Gott - und deinen Nächsten wie dich selbst“ nicht vom Tisch nehmen mag. Wegen des Spirituellen, Religiösen, ja Kirchlich- Liturgischen habe ich diesen Beruf gewählt und nicht den des Sozialdiakons oder Eventmanagers.
Und nicht zuletzt habe ich Kirche immer als eine Gemeinschaft von Menschen verstanden, die sich gegenseitig und der Welt, in der sie leben, eine Botschaft erzählen, die sich ein Einzelner nicht selbst erzählen und schon gar nicht glauben kann, nämlich die von der Auferstehung Jesu und der daraus resultierenden Gelassenheit gegenüber dem Tod und all seinen Boten und Zeichen.
Das schließt die Gemeinwesenorientierung natürlich alles nicht aus, aber ich empfinde das mir - durch spirituelle Suche, religiöse Erfahrung, Biografie, Charakterstruktur, Ausbildung und Alter - Wichtigste in die zweite Reihe gedrängt. Der Verdacht drängt sich mir auf, dass Kirche, weil sie mit Religion und Gott oder gar mit Jesus bei den Menschen nicht mehr landen kann, ihr Heil im Sozialen und irgendwie darin ja auch immer implizierten und damit identifizierten christlichen Werten sucht.
Aber gut, ich bin ein Lernender. Vielleicht lichtet sich der Nebel meiner Bedenken, wenn ich meiner grundsätzlichen Begeisterung für die neue Orientierung in Tat und Praxis nachgehe und erfahre, dass das gemeine Wesen und die Gemeinde Christi an einem Ort und sich wechselseitig überschneidend und bereichernd ihren Platz haben können. Wir stehen ja noch ganz am Anfang.